C.
Wirtschafts-, Währungs-, Haushalts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik
I. Wirtschaftspolitik
Kapitel 2 des Titels VII des Dritten Teils des Vertrages über die Arbeitswei-se der Europäischen Union (Art. 98 ff. (120 ff.) AEUV), der die Wirtschafts-politik regelt, verletzt die Wirtschaftshoheit Österreichs, die Teil der existentiellen Staatlichkeit ist.
1. Ohne Wirtschaftshoheit kann ein Staat seine Aufgabe und Pflicht, die wirtschaftliche Stabilität herzustellen, zu wahren und zu fördern, nicht erfüllen. Das Sozialprinzip als die verfassungskräftige Maxime der mit der Freiheit und der Gleichheit untrennbar verbundenen Brüderlichkeit gehört zu der und muß das sein. Nichts würde das Volk Österreichs stärker verletzen als eine Politik gegen das Sozialprinzip. Eine solche Politik wäre gegen das Volk nicht durchzusetzen, solange das demokratische Prinzip wir-kungsmächtig ist. Das Sozialprinzip ist ein ungeschriebenes Baugesetz der mit dem Menschen geborenen Verfassung der Menschheit des Menschen , also zur existentiellen Staatlichkeit eines existentiellen Staates. Einer „demo-kratischen Republik“ ist das Sozialprinzip immanent ; denn eine Republik ist ein solidarisches Gemeinwesen und das demokratische Prinzip ist das Mo-vens der sozialen Realisation.
Auch ein Rechtsstaat muß um des Rechts wil-len Sozialstaat sein; denn der Rechtsstaat verwirklicht die allgemeine Freiheit, die aber ist der praktischen Vernunft, der Sittlichkeit, verpflichtet, deren Ge-setz das Sittengesetz, der kategorische Imperativ ist. Das Sittengesetz ist das (christliche) Liebesprinzip, das Prinzip der Brüderlichkeit oder eben der Soli-darität. Freiheitlichkeit und Brüderlichkeit sind eine untrennbare Einheit und darum auch Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat .
Obwohl das Sozialprinzip in den Verfassungsgesetzen Österreichs nicht expliziert ist, ist es ein Strukturprinzip der Republik Österreich. Österreich ist ein „hochentwickelter Sozialstaat“ demokratischen Republik Österreich. Seit langem gibt es Bemühungen, Ös-terreich explizit im Bundes-Verfassungsgesetz als Sozialstaat auszuweisen. Jeder aufklärerische Kulturstaat ist wesentlich Demokratie, Rechts- und Sozialstaat.
Das Sozialprinzip ist das bestimmende Verfassungsprinzip der Wirtschaft-sordnung, die, auch wenn sie „soziale Marktwirtschaft“ genannt zu werden pflegt, die Sozialpflichtigkeit des Gemeinwesens als bestimmendes Prinzip der Wirtschaftsverfassung anerkennt und anerkennen muß. Als wirtschafts-verfassungsrechtliches Prinzip des existentiellen Staates gebietet das Sozialprinzip eine Wirtschaftspolitik, welche neben der Preis(niveau)stabilität auch die hohe Beschäftigung, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht und stetiges Wachstum zu gewährleisten bemüht ist, jedenfalls die Verantwortung für die Stabilität und das Wachstum der Wirtschaft trägt und zu tragen hat. Die Verantwortung für das gute Leben aller, also die Wohlstandsverantwortung, hat der Staat im weiteren Sinne, die Bürgerschaft, das Volk als existentieller Staat, auch deswegen, weil das Sozialprinzip demokratisch verantwortet werden muß. Der Motor der sozialen Entwicklung ist die Demokratie.
Die Verwirklichung des Sozialprinzips darf nicht von der Verantwortung des Volkes als existentieller Staat für die Wirtschaftspolitik gelöst werden, weil letztere das gemeine Wohl des Volkes existentiell (schicksalhaft) bestimmt. Salus publica suprema lex est. Wegen der volkswirtschaftlich unauflöslichen Einheit von Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik verbietet nicht nur das demokratische Prinzip der existentiellen Staatlichkeit, die wirtschaftspoli-tische und sozialpolitische sowie erst recht die währungspolitische Verantwortung auseinanderzureißen, sondern die wirtschaftspolitische Hoheit ist selbst Gegenstand der sozialen Verantwortung des existentiellen Staates mit höchstem Verfassungsrang.
Grob gefaßt heißt das: Wegen des Sozialprinzips gebietet das Prinzip der existentiellen Staatlichkeit, die Wirtschaftshoheit dem existentiellen Staat zu belassen. Oder umgekehrt: Die politische Einheit, welche die Wirtschaftshoheit innehat, verfügt über existentielle Staatlichkeit, welche einen existentiellen Staat voraussetzt. Die Wirtschaftsverfassung einer demokratischen Republik ist die Sozialwirtschaft, die um der liberalen Grund-rechte willen (Unternehmerfreiheit, Eigentumsgewährleistung usw.) und um der Effizienz der Wirtschaft willen das Markt- und Wettbewerbsprinzip einsetzen muß und demgemäß als marktliche Sozialwirtschaft begriffen werden kann und sollte.
Nicht nur die existentielle Währungspolitik (für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist) ist seit der Währungsunion (1998) aufgrund des Maast-richt-Vertrages (Art. 4 Abs. 2, Art. 105 ff. EGV) in die ausschließliche Zu-ständigkeit der Europäischen Union übergegangen (Art. 2b (3) Abs. 1 lit. c) AEUV), sondern auch die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik ist trotz der andersartigen Formulierungen im Vertrag von Lissabon wesentlich in die Hand der Union gegeben, insbesondere für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (Art. 115a ff. (136 ff.) AEUV). Art. 2d Abs. 1 und 2 AEUV lauten:
„(1) Die Mitgliedstaaten koordinieren ihre Wirtschaftspolitik innerhalb der Union. Zu diesem Zweck erläßt der Rat Maßnahmen; insbesondere beschließt er die Grundzüge dieser Politik.
Für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, gelten besondere Regelungen.
(2) Die Union trifft Maßnahmen zur Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten, insbesondere durch die Festlegung von Leitlinien für diese Politik.“
Die Mitgliedstaaten haben ihre Wirtschaftspolitik im Rahmen der in Art. 2 (3) Abs. 3 AEUV genannten Grundzüge nicht nur an den Zielen der Union im Sinne des Art. 99 Abs. 2 (121) AEUV auszurichten, sondern sie haben wie die Union selbst „im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen ge-fördert wird“, zu handeln und sich dabei an die in Art. 97b (119) AEUV ge-nannten Grundsätze, insbesondere „stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz“ zu halten.
2 a) Der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 97b (119) AEUV) verpflichtet die Mitgliedstaaten wie die Union zu ei-ner weltweit offenen Wirtschaftspolitik, also zur globalen wirtschaftlichen Integration.
Diese Regelung verbietet den Mitgliedstaaten jeden Schutz einheimischer Produkte, obwohl solche Maßnahmen je nach Wirtschaftslage und je nach Einzelfall notwendig und darum von dem wirtschaftsverfassungs-rechtlichen Sozialprinzip geboten sein kann und jedenfalls nicht durch einen Vertrag der Europäischen Union für die Mitgliedstaaten gänzlich ausge-schlossen werden darf.
Die gegenwärtige Krise der österreichischen und noch mehr deutschen Wirtschaft erweist die kredit- und lohnpolitischen Nöte beider Länder, die wegen der Währungsunion ihre zinspolitischen (hart erarbeiteten) Vorteile, aber auch ihre zinspolitische Hoheit verloren hat und wegen des unionsweiten Binnenmarktes zum einen und des weltwirtschaftsrechtlich begründeten globalen Marktes zum anderen wesentlich wegen der unerreichbar niedrigen Löhne anderer Standorte (Lohndumping) am Waren-, aber auch am Dienstleistungsmarkt in vielen Bereichen nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Die unvermeidliche Folge ist der Verlust der Arbeitsplätze, in hohem Maße begleitet und hervorgerufen durch die Standortverlagerung der Unternehmen oder Betriebe, durch die Globalisierung also, eine Entwicklung, die zu ein-fuhr-, standort- und kapitalverkehrspolitischen Maßnahmen zwingen kann. Die verbindliche Vorgabe der Art. 97b (119) Abs. 1 und 2, Art. 98 (120) AEUV, der Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, verbietet aber den Mitgliedstaaten jede eigenständige Wirtschaftspolitik, selbst wenn diese als unabdingbar notwendig von einem Mitgliedstaat erkannt werden sollte, um nicht nur die soziale, sondern auch die politische Stabilität des Landes zu verteidigen. Damit ist die existentielle Staatlichkeit der Mit-gliedstaaten unvertretbar eingeschränkt, ja wesentlich beseitigt. Von Art. 1 B-VG ist eine Zustimmung zu diesen Vorschriften des Vertrages von Lissabon nicht gedeckt.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, den Mitgliedstaaten bleibe die Möglichkeit des Art. 49a (50) EUV, aus der Union auszutreten 407 . Diese Möglichkeit ist wegen des politischen Schadens, den ein solcher Schritt verursacht derart irreal, daß sie sich politisch verbietet. Allenfalls im Notfall kommt der Austritt in Betracht.
Das Verfassungsrecht Österreichs hat, gerade wenn man dessen Wirtschaftsverfassung als die der marktlichen Sozialwirtschaft versteht, die wirtschaftliche Ordnungspolitik im wesentlichen offengelassen (wirtschaftspolitische Neutralität) und sich weder einem grundsätzlichen Marktprinzip, wie es das Substantiv Marktwirtschaft geböte, noch gar einem Prinzip offener Marktwirtschaft, das es zumindest erschwert, Bedrängnissen der Globalierung entgegenzutreten, verschrieben. Allein das wird dem Prinzip der staatlichen Verantwortung für das Gemeinwohl des Volkes gerecht. Bereits der Grundsatz der (schrankenlosen) "offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" überschreitet die Grenzen, welche das Prinzip der existenziellen Staatlichkeit eines existenziellen Staates für die Integrationspolitik zieht. Ein solcher Grundsatz ist nicht mehr sozial, aber auch nicht mehr demokratisch im Sinne des Art. 1 S. 1 B-VG- Allein schon die Mitgliedstaaten auf den Grundsatz einer Marktwirtschaft festzulegen, schränkt die für einen existenztiellen Staat existentielle Wirtschaftshoheit ein. Die grundrechtliche Verfassung impliziert aufgrund ihres Privatheitsprinzips. insbesondere wegen des Eigentumsschutzes aus Art. 5 StGG und Art. 1 des ZProt. MRK, welche richtigerweise auch das Recht am Unternehmen umfaßt und damit neben dr Erwerbsfreiheit des Art. 6 Abs. 1 StGG die Unternehmensfreiheit schützt, eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, nämlich in Verbindung mit dem Sozialprinzip die marktliche Sozialwirtschaft. Aber das Verfassungsrecht Österreichs läßt auch eine andere Ordnung zu, soweit dies für das Gemeiwohl um der Verwirklichung anderer Verfassungsprinzipien willen geboten ist, wie für die Sozialversicherung, welche fraglos ein wesentlicher Teil der Wirtschaft ist, aber auch für die Daseinsvorsorge, die immer noch in weiten Bereichen von der öffentlichen Hand, vor allem den Kommunen, geleistet wird, und ebenso fraglos zur Wirtschaft gehört, wie die Praxis des Europäi-schen Gerichtshofs zu Art. 86 EGV erweist, welche die öffentlichen Unter-nehmen der Daseinsvorsorge dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft un-terwirfteine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, nämlich in Verbindung mit dem Sozialprinzip die marktliche Sozialwirtschaft. Aber das Verfassungsrecht Österreichs läßt auch eine andere Ordnung zu, soweit dies für das Gemein-wohl um der Verwirklichung anderer Verfassungsprinzipien willen geboten ist, wie für die Sozialversicherung, welche fraglos ein wesentlicher Teil der Wirtschaft ist. Viele Unternehmensbereiche der Daseinsvorsorge sind vor allem im Interesse der Ausdehnung des Binnenmarktes, aber auch des Wettbewerbs materiell privatisiert worden, weitgehend die Energieversorgung, auch der Ei-senbahnverkehr, das Postwesen und die Telekommunikation. Es ist schwer einzuschätzen, ob sich die Versorgung mit den jetzt privatisierten, früher öffentlichen (richtigerweise hoheitlichen) Dienstleistungen verbessert hat. Ent-scheidend für die Frage der existentiellen Staatlichkeit ist, daß die Mitglied-staaten die Hoheit über die Wirtschaft in Form der Daseinsvorsorge (vielfach und weitgehend) aufgegeben haben, weil sie sich unionsrechtlich verpflichtet sehen (und haben), dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb zu genügen. Art. 16 EGV, der „Dienste von allgemeinem wirt-schaftlichen Interesse“ der „Sorge“ der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten überantwortet, hat diese Entwicklung nicht merkbar gehemmt. Die Nachfolgeregelung des Art. 16 (14) AEUV läßt nicht mehr Wirkung erwarten.
Immerhin stellt Art. 98 (120) VAEUV wie zuvor schon Art. 98 EGV diesen Grundsatz unter den Vorbehalt, daß der effiziente Einsatz der Ressourcen ge-fördert werde. Dieser Vorbehalt lehrt nicht etwa eine volkswirtschaftliche Theorie, um den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wett-bewerb zu rechtfertigen, obwohl er in der deutschen Übersetzung so formu-liert ist 414 , sondern ist ein Rechtssatz, der die Verbindlichkeit des Grundsatzes davon abhängig macht, daß die offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbe-werb den effizienten Einsatz der Ressourcen fördert. Das läßt auch unions-rechtlich andere Wirtschaftsformen zu, auch öffentliche Unternehmen der Da-seinsvorsorge. Für die existentielle Staatlichkeit ist jedoch entscheidend, daß nicht die Mitgliedstaaten darüber zu entscheiden haben, ob die Wirtschafts-form den effizienten Einsatz der Ressourcen fördert, sondern, weil das Uni-onsrecht von dem Grundsatz eine Ausnahme macht, die Union, insbesondere mittels der noch zu erörternden Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mit-gliedstaaten und der Union gemäß Art. 99 Abs. 2 ff. EGV/(121) AEUV, im Streitfall durch Erkenntnisse des Gerichtshofs der Europäischen Union.
b) Mit der Marktwirtschaft ist der Wettbewerb verbunden, den das Unionsrecht als „freien Wettbewerb“ bezeichnet. Die Freiheit des Wirtschaftens, sei es als Unternehmer, sei es als Verbraucher, sei es als Anbieter, sei es als Nachfrager, ist die Voraussetzung von Wettbewerb. Die Privatheit des Wirtschaftens hat Wettbewerb zur Folge. Staatliches Wirtschaften unterliegt nicht dem Wettbewerbsprinzip. Staatlichkeit (Ausübung von Staatsgewalt) und Wettbewerb sind unvereinbar. Wenn der Staat als Unternehmer dem Wettbewerbsprinzip unterworfen wird, ist das, unabhängig von der öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Form der Organisation und des Handelns, staatswidrige Privatisierung. Auch der freie Wettbewerb muß einen effizien-ten Einsatz der Ressourcen fördern, wovon nach wirtschaftswissenschaftli-chen Erfahrungen und Theorien meist ausgegangen werden kann.
Entscheidend für die existentielle Staatlichkeit ist jedoch wiederum, daß nicht die Mitgliedstaaten, sondern die Union die Begriffshoheit hat, also zu entscheiden hat, ob die Mitgliedstaaten außer der Union selbst ihre Wirtschaftsordnung einem freien Wettbewerb gemäß gestaltet haben, im Streitfall wiederum der Gerichtshof.
Das gesamte Wirtschaftsrecht einschließlich des Handels- und Gesellschaftsrechts, des Kapitalmarktrechts, des Gewerberechts, des Berufs- und Arbeitsrechts und auch des Steuer- und Sozialrechts, greift in den freien Wettbewerb, wie auch in die offene Marktwirtschaft, ein, ohne daß dadurch der Grundsatz verletzt sein muß, aber die Grenzen, welche der Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb der Politik der Mitgliedstaaten zieht, bestimmt die Union, wiederum durch die Grundzüge des Art. 99 (121) Abs. 2 AEUV und im Streitfall durch Erkenntnisse des Gerichtshofs.
3. Die Wirtschaftshoheit der Mitgliedstaaten wird vor allem durch die Grundzüge der Wirtschaftspolitik eingeschränkt, ja aufgehoben, welche der Rat für die Mitgliedstaaten und die Union entwirft, dem Europäischen Rat be-richtet und, nachdem der Europäische Rat auf der Grundlage dieses Berichts eine Schlußfolgerung erörtert hat, auf der Grundlage dieser Schlußfolgerung den Mitgliedstaaten der Union empfiehlt (Art. 99 (121) Abs. 2 AEUV). Diese Empfehlung ist entgegen Art. 249 (288) Abs. 5 AEUV nicht etwa nicht ver-bindlich 417 . Vielmehr verschaffen die Absätze 3 bis 6 des Art. 99 (121) AEUV dieser Empfehlung rechtliche Verbindlichkeit, die sogar gegenüber der bisherigen Regelung des Art. 99 Abs. 3 bis Abs. 6 EGV verschärft ist; denn an Mit-gliedstaaten, deren Wirtschaftspolitik mit den genannten Grundzügen nicht vereinbar ist oder das ordnungsgemäße Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion zu gefährden droht, kann die Kommission nach der Regelung des Vertrages von Lissabon eine „Verwarnung“ richten (Art. 99 (121) UAbs. 4 S. 1 AEUV), während nach der bisherigen Regelung des Art. 99 Abs. 4 S. 1 EGV die Kommission lediglich „die erforderliche Empfehlungen“ an den b-treffenden Mitgliedstaat richten durfte. Der Begriff der „Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Union“ ist nicht näher definiert.
Er ermöglicht die Gestaltung der Wirtschaftspolitik weit- und tiefgehend. Die Grundzüge der Wirtschaftpolitik müssen die Rechtsordnung der Union berücksichtigen, nicht aber die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Diese müssen vielmehr ihre Gesetze ändern, wenn letztere nicht den Grundzügen der Union entsprechen. Das folgt aus der Logik des „gemeinsamen Interesses“, das nur verwirklicht werden kann, wenn nicht auch die besonderen Inte-ressen der Mitgliedstaaten, welche diese durch mitgliedstaatliche Gesetze regeln können, berücksichtigt werden müssen.
Nach dem Wortlaut des Art. 98 (120) AEUV ist die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten vorrangig an die Grundzüge des Art. 99 (121) Abs. 2 AEUV gebunden. Freilich sind die Ziele der Union im Sinne des Art. 2 (3) EUV anzustreben, die aber denkbar weit sind und sich von einer allgemeinen wohlfahrtsstaatlichen Zielsetzung nicht wesentlich unterscheiden. Das wirtschaftliche Handeln muß zudem im Ein-klang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbe-werb und dem des effizienten Einsatzes der Ressourcen stehen. Der wirtschaftsverfassungsrechtlich relevante Absatz 3 des Art. 2 (3) EUV lautet:
„Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwick-lung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirt-schaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.
Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Ge-rechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.
Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.“
Von einer begrenzten Ermächtigung kann keine Rede sein. Das demokrati-sche Defizit dieser wirtschaftspolitischen Befugnis der Union wird dadurch verstärkt, daß das Europäische Parlament nach Art. 99 (121) Abs. 2 Unterabs. 2 S. 3 AEUV von der Empfehlung des Rates, in der die Grundzüge dargelegt werden, lediglich unterrichtet wird. Nicht einmal dieses „Parlament“ hat also auf diese Maßnahme einen nennenswerten Einfluß. Die Grundzüge sind aber Grundlage der Überwachung der Mitgliedstaaten durch den Rat anhand von Berichten der Kommission daraufhin, ob deren Wirtschaftspolitik mit den Grundzügen vereinbar ist.
Im übrigen wird die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten wie die der Union im Interesse der engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik und der dauerhaften Konvergenz der Wirtschaftsleis-tungen vom Rat anhand von Berichten der Kommission überwacht. Allein schon die Unvereinbarkeit der Wirtschaftspolitik eines Mitgliedstaates mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Union ermöglicht die Verwarnung des Mitgliedstaates durch die Kommission. Eine Verwarnung kann die Kom-mission an den Mitgliedstaat auch richten, wenn dessen Wirtschaftspolitik das ordnungsgemäße Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion zu ge-fährden droht. Der Rat kann des weiteren auf Empfehlung der Kommission die erforderlichen Empfehlungen an den Mitgliedstaat richten und auf Vor-schlag der Kommission seine Empfehlungen veröffentlichen. Der Rat be-schließt die Überwachungsempfehlung ohne Berücksichtigung des betreffen-den Mitgliedstaates (Art. 99 (121) Abs. 4 UAbs. 2 AEUV). Dem Europäi-schen Parlament haben der Präsident des Rates und die Kommission über die Ergebnisse der multilateralen Überwachung Bericht zu erstatten, der von dem zuständigen Ausschuß des Europäischen Parlaments mit dem Präsidenten des Rates erörtert werden kann, wenn der Rat seine Empfehlung veröffentlicht hat (Art. 99 (121) Abs. 5 AEUV). Die Verwarnungen und Empfehlungen der multilateralen Überwachung setzen die Wirtschaftspolitik des betroffenen Mitgliedstaates ins Unrecht, weil er das gemeinsame Interesse der Mitglied-staaten, das in den Grundzügen definiert ist, nicht beachtet hat oder gar das ordnungsgemäße Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion zu ge-fährden droht. Das verpflichtet diesen Mitgliedstaat nicht nur politisch, son-dern rechtlich, seine Wirtschaftspolitik zu ändern, weil er die Wirtschaftspoli-tik nach Art. 99 (121) Abs. 1 AEUV als Angelegenheit von gemeinsamem In-teresse zu behandeln hat.
Die Mitgliedstaaten sind dadurch, aber auch allgemein durch Art. 3a (4) Abs. 3 AEUV verpflichtet, das Unionsinteresse zu verwirklichen 420 . Sie haben „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben, zu ergreifen“. Zu diesen Handlungen gehören auch die empfohlenen Grundzüge als Grundlage der multilateralen Überwachung. Die wirtschaftspolitischen Grundzüge materiali-sieren die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur „loyalen Zusammenarbeit“ (Art. 3a (4) Abs. 3 UAbs. 1 EUV) 421
Die Wirtschaftshoheit der Mitgliedstaaten, die durch die wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarktes (Art. 28 ff., 39 ff., 43 ff., 49 ff., 56 ff. EGV/(34 ff., 45 ff., 49 ff., 56 ff., 63 ff.) AEUV) und das Wettbewerbsregime der Union (Art. 81 ff. EGV/(101 ff.) AEUV, aber auch durch die vielen ande-ren wirtschaftsrelevanten Politiken existentiell eingeschränkt ist, wird durch die Ermächtigung der Union, den Mitgliedstaaten Grundzüge der Wirtschaftspolitik verbindlich zu machen, in einer Weise geschmälert, die der existentiellen Staatseigenschaft widerspricht. Die Mitgliedstaaten werden wirtschaftspolitisch zu überwachten, also untergeordneten Wirtschaftseinheiten der Union herabgestuft, denen die Verantwortung für ihr wirtschaftliches und damit existentielles Schicksal nicht mehr zugestanden wird.
Die wirtschaftspolitische Überwachungsbefugnis der Union erinnert an die selbständige Reichsaufsicht nach Art. 7 Abs. 1 Nr. 3 der deutschen Reichsverfassung 1871 422 . Besonders hinzuweisen ist noch einmal auf das Demokratiedefizit der wirtschaftspolitischen Überwachung der Mitgliedstaaten durch die Union nach Art. 99 (121) Abs. 2 ff. AEUV, das dadurch verstärkt wird, daß die ex lege wirkenden Grundfreiheiten des Binnenmarktes wie die Prinzipien des Wettbewerbs ebenfalls ohne hinreichende demokratische Legitimation verwirklicht werden, nämlich vornehmlich durch den Gerichtshof der Union, der für diese Judikatur nicht demokratisch legitimiert ist, wie noch näher dargelegt werden wird, aber dennoch außerordentliche politische Relevanz hat, welche den Begriffen der Grundfreiheiten genausowenig entnommen werden kann wie den Begriffen des Wettbewerbsrechts.
Die Wirtschaftshoheit der Mitgliedstaaten ist somit ohne eigenständige unionsdemokratische Legitima-tion durch denkbar weite und offene Begriffe des Vertragen von Lissabon (wie schon des Maastricht-Vertrages) eingeschränkt, ja aufgehoben, die dem für die Integration demokratierechtlich notwendigen Prinzip der begrenzten Ermächtigung augenfällig widerstreitet. Die Relevanz dieses Befundes für die Erkenntnis des Verlustes existentieller Staatlichkeit der Mitgliedstaaten und der Begründung existentieller Staatlichkeit der Union wird nicht dadurch rela-tiviert, daß die wirtschaftspolitische Hoheit der Mitgliedstaaten bereits mit dem Maastricht-Vertrag aufgegeben war. Akzeptiert hat das Bundesvolk der Österreicher das nicht; denn die Bürger Österreichs waren darüber nicht unterrichtet.
4. Die Wirtschaftshoheit der Mitgliedstaaten wird weiter durch die Befugnis des Rates nach Art. 100 Abs. 1 EGV/(123) AEUV), „auf Vorschlag der Kom-mission … im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten über die Wirtschaftslage angemessenen Maßnahmen zu beschließen, insbesondere falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich, auftreten“. Ein Beschluß ist verbindlich, obwohl er kein Gesetz ist (Art. 249 (288) Abs. 4 AEUV). Er kann an bestimmte Ad-ressaten gerichtet sein. Diese Ermächtigung kennt keinerlei materielle Vor-aussetzungen. Nach dem Text rechtfertigt jede Wirtschaftslage „angemessene Maßnahmen“, „unbeschadet der sonstigen in der Verfassung vorgesehenen Verfahren“. Es ist davon auszugehen, daß die Maßnahmen den wirtschaftspo-litischen Zielen und Prinzipien der Union entsprechen müssen. Diese Ermäch-tigung würde auch wirtschaftspolitische Maßnahmen gegenüber Beschlüssen des Bundestages rechtfertigen, welche etwa die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands stärken wollen, um die außerordentliche Arbeitslosigkeit zu beheben.
Solchen Maßnahmen, die aufgrund des Vertrages von Lissabon den Uni-onsorganen übertragen sind, steht die Tarifautonomie der Koalitionsfreiheit des Art. 12 StGG und Art. 11 Abs. 1 MRK 424 entgegen, ja sie würden sogar den Wesensgehalt dieses Grundrechts mißachten. Ein Beschluß des Rates ist aber an das nationale Grundrecht nicht gebunden. Vielmehr ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union maßgeblich (Art. 51 der Charta). Art. 28 der Charta schützt zwar auch das Recht der Tarifpartner, Tarifverträge auszuhandeln und zu schließen, gibt aber gegenüber der Koalitionsfreiheit nur einen schwachen Grundrechtsschutz. Die Tarifautonomie ist aber im Kern Gegenstand des Grundrechtsschutzes der Koalitionsfreiheit .
Das Grund- und Menschenrecht ist auch nur einschränkbar, wenn das notwendig ist, um andere verfassungsrangige Güter zu schützen, während das Grundrecht der Charta der Grundrechte der Union zum einen durch das Unionsrecht (abgesehen von den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten) begrenzt ist, also auch durch Beschlüsse des Rates nach Art. 100 (123) Abs. 1 AEUV, die der Wirtschaftslage angemessene Maßnahmen festlegen. Zwar müssen Einschränkungen der Ausübung der Rechte und Freiheiten der Charta nach Art. 52 Abs. 1 der Charta „den wesentlichen Gehalt dieser Rechte und Freiheiten achten“, aber über den Schutz dieses Wesensgehalts entscheidet nicht etwa der Verfassungsgerichtshof Österreichs, sondern der Gerichtshof der Union, weil der Beschluß ein Rechtsakt der Union ist .
Es ist völlig offen, wie eng oder weit der Gerichtshof die Tarifautonomie zumessen wird. Die Erfahrung lehrt, daß der Gerichtshof Grundrechteverletzungen durch Rechtsetzungsakte der Gemeinschaft nicht zu erkennen vermag, also keinen Grundrechteschutz gibt, obwohl er die Rechtsakte an den Grundrechten, zumal an deren Wesensgehalt (äußerst kursorisch) zu prüfen pflegt .
Der Gerichtshof hat in seiner gut 50jährigen Praxis noch nicht ein einziges Mal einen Rechtsetzungsakt der Gemeinschaft an einem Grundrecht oder dessen We-sensgehalt scheitern lassen. Für die existentielle Staatlichkeit kommt es allein darauf an, daß die Wirtschaftshoheit der Mitgliedstaaten und damit Österreichs durch Art. 100 (123) Abs. 1 AEUV empfindlich eingeschränkt ist, ohne daß nähere Tatbestandsmerkmale im Sinne des Prinzips der begrenzten Er-mächtigung genannt wären. Österreich muß sich jede Maßnahme des Rates, welche dieser mit qualifizierter Mehrheit (Art. 9c (16) Abs. 3 EUV) beschließt, gefallen lassen, wenn sie denn den weiten und offenen Zielen und Prinzipien der Wirtschaftsverfassung der Union entsprechen, was wiederum der Gerichtshof zu beurteilen hätte.
Österreich muß wirtschaftspolitische Maßnahmen, welche mit der Wirtschaftsverfassung Österreichs, zumal den Wirtschaftsgrundrechten Deutschlands nicht vereinbar sind, hinnehmen, und darf nach dem Vertrag von Lissabon die Wirtschaftshoheit nicht mehr nach dem eigenen Verfassungsgesetz und schon gar nicht nach den eigenen Inte-ressen ausüben. Dabei beansprucht Vorrang vor dem Verfassungsrecht Österreichs nicht nur der Vertrag als solcher, sondern auch das von den Organen der Union erlassene Sekundär- und Teritärrecht (17. Erklärung zum Vertrag von Lissabon).